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Interview mit Prof. Jakob Pastötter

Prof. (US) Dr. Jakob Pastötter ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung (DGSS), deren Sitz Düsseldorf ist. Der 43-Jährige studierte Kulturanthropologie an der Universität Regensburg und promovierte nach einem mehrjährigen Forschungsaufenthalt am Kinsey Institute an der Humboldt Universität Berlin.

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Interview mit Prof. Jakob Pastötter

Von 2001 bis 2003 war er dort stellvertretender Direktor des Magnus Hirschfeld Archivs für Sexualwissenschaft.

Seit 2003 ist Jakob Pastötter Professor an der American Academy of Clinical Sexologists. Daneben engagiert sich der Spezialist für Sexualforschung als Mitherausgeber der International Encyclopedia of Sexuality und der wissenschaftlichen Zeitschrift „Sexuality and Culture“. Jakob Pastötter war maßgeblich an der Erstellung des Fragebogens und Analyse der statistischen Auswertung der Sexstudie 2008 beteiligt.

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1. Wie lange haben Sie im Vorfeld an der Studie gearbeitet?
J.P.: Der eigentliche Startschuss fiel im Juli 2007. Anlässlich des 80sten Geburtstags von Oswalt Kolle und des 40-jährigen Jubiläums seiner Aufklärungsfilme wollte ProSieben eine fünfteilige Dokumentation produzieren. Inhalt sollte eine Bilanz von 40 Jahren sexueller Aufklärung sein. Da Oswalt Kolle selbst Mitglied der DGSS ist, lag es für ihn nahe, das Präsidium um seine Mitwirkung zu bitten. Wir stellten unsere wissenschaftliche Expertise und unsere internationalen Kontakte für eine Studie zur aktuellen Sexualität in Deutschland daraufhin gerne zur Verfügung. Die Studie basiert in Ihren Grundzügen auf der Arbeit am Deutschlandkapitel der International Encyclopedia of Sexualität 2001 und 2002. Im Zuge dieser Arbeit musste allerdings festgestellt werden, dass viele bisherige Umfragen zur Sexualität entweder nur Teilaspekte von Sexualität behandelt bzw. nur Teile der Bevölkerung untersucht hatten, oder auf Grund methodischer Schwächen als wenig aussagekräftig zu bewerten waren. Mit unserer Herangehensweise haben wir versucht, diese Fehlerquellen auszuschließen.

2. Nach welchen Kriterien haben sie die Fragen ausgewählt?
J.P.: Zum einen haben wir uns Oswalt Kolles Filme angesehen, um herauszufinden, was ihn und sein Publikum damals bewegte. Zum anderen konnten wir auf die gewachsene Erfahrung der International Encyclopedia of Sexuality, deren Mitherausgeber ich bin, zurückgreifen. Sie sammelt seit fast 20 Jahren das Wissen Hunderter von Experten aus über 60 Ländern. Wir haben die standardisierte Gliederung für unseren eigenen Fragebogen adaptiert und ergänzt. Dabei war es uns wichtig, dass die Reihenfolge und Formulierung der Fragen dem Bedürfnis der Befragten entgegenkommt. Sie sollten sich ernst genommen fühlen, aber auch Spaß an der Beantwortung haben.

3. Warum haben sie das Internet als Medium gewählt?
J.P.: Wir waren von Anfang an davon überzeugt, dass das einzig richtige Medium für eine Studie zur Sexualität von heute das Internet ist. Studienteilnehmer fühlen sich hier gleichzeitig persönlich angesprochen, aber auch anonym genug, um ehrliche Antworten zu geben. Face-to-Face-Situationen oder Telefoninterviews bieten diesen Vorzug nicht.

4. Wie werten sie die Ergebnisse aus?
J.P.: Die Analyse erfolgt mittels deskriptiver Statistik. Darunter versteht man die Techniken, mit denen eine Menge von beobachteten Daten summarisch dargestellt warden. Von der Stichprobe wird also auf die Grundgesamtheit geschlossen. Darüber hinaus werden aber auch die Unterschiede zwischen einzelnen Gruppen untersucht, u.a. mit dem Chi-Quadrat-Test und dem t-Test. Untersuchte Parameter sind dabei u.a. die stochastische (Un)abhängigkeit von Variablen (Methode: Chi-Quadrat-Test für kategoriale Merkmale, z.B. Geschlecht) sowie die systematische Unterscheidung der Mittelwerte (Methode: t-Test für metrische Merkmale, z.B. Alter).
Selbstverständlich wird auch auf die Stringenz der Antworten geachtet und offensichtliche „Spaßantworten“ werden vor der Auswertung eliminiert. Davon gab es aber kaum welche.

5. Wie repräsentativ ist die Studie?
J.P.: Wir wollten mit unserem Fragebogen möglichst viele Menschen erreichen – vor allem auch jene, die bei den so genannten repräsentativen Erhebungen durch das Raster fallen, weil Sie die üblichen Fragebogen und Interviews als langweilig und zu wenig auf sich selbst bezogen empfinden. Unsere Befragung sollte Teilnehmern das Gefühl geben, dass wir an ihrer ganz eigenen und individuellen Erfahrung von Sexualität in ihrer Gesamtheit interessiert sind.
Ein Manko vieler Umfragen zur Sexualität ist die Annahme, dass sich ein repräsentatives Ergebnis nach denselben Kriterien bilden ließe wie bei der Konsum- oder Meinungsforschung. Sexualität hat aber – anders als z.B. Parteizugehörigkeit oder die Vorliebe für Fitness-Riegel – nichts oder doch sehr wenig mit den üblichen sozialen Parametern zu tun. Mit anderen Worten: der Bankangestellte X, kann eine völlig andere Sexualität haben als der Bankangestellte Y, obwohl beide in vergleichbaren sozialen Verhältnissen leben und dieselben religiösen und ideologischen Wertvorstellungen teilen. In der statistischen Auswertung versuchen wir, falschen Verallgemeinerungen entgegen zu wirken, indem wir Kriterien wie Alter und Geschlecht als Filter benutzen. Wir Wissenschaftler geben dem Medianwert gegenüber dem Meanwert den Vorzug, da er robuster gegen Ausreißer sowohl nach oben als auch nach unten ist. In dem Medien oder bei Umfragen durch Konsum- oder Meinungsforschungsinstituten ist es allerdings üblich, den Meanwert anzugeben, weil dieser die spektakuläreren Zahlen liefert. Folgendes Beispiel illustriert den Unterschied: Wenn ich das Einkommen von Bill Gates in das Durchschnittsgehalt bei Microsoft mit einrechne, erhalte ich eine andere Zahl (=Meanwert), als wenn ich nur angebe, was das mittlere Gehalt der Mehrheit der dort Beschäftigten ist (=Medianwert). Beide Ergebnisse sind jedoch wissenschaftlich korrekt.
Zusammenfassend kann man sagen, dass das Sample äußerst robust ist. Bei über 50.000 vollständig ausgefüllten Fragebögen ist es möglich, selbst für die unterdurchschnittlich repräsentierten Altersgruppen noch statistisch zuverlässige Aussagen zu treffen.

6. Sind wir heute sexuell aktiver als vor 40 Jahren? Welche Tendenzen haben Sie festgestellt?

J.P.: Unsere Studie ist nicht vergleichend angelegt. Das liegt vor allem daran, dass uns schlicht keine zuverlässigen Zahlen zur Sexualität 1968 vorliegen. Darüber hinaus ist es generell wissenschaftlich problematisch oder zumindest fragwürdig, Sexualität zu quantifizieren. Ist z.B. der sexuell aktiver, der dreimal die Woche vaginalen Geschlechtsverkehr für jeweils fünf Minuten hat oder derjenige, der einmal die Woche zwei Stunden lang beim Sex-Chat masturbiert?

7. Welchen konkreten Nutzen ziehen sie als Wissenschaftler aus den Daten?
J.P.: Ich denke, dass die Auswertung unseres Fragebogens ein realistisches Schlaglicht auf die sexuellen Verhältnisse in Deutschland wirft. Damit meine ich vor allem, dass wir deutlich machen können, dass Sexualität etwas ungeheuer Komplexes ist. Sie unterliegt vielen verschiedenen Einflüssen, die von uns zu einer eigenen und unverwechselbaren sexuellen Identität geordnet werden. Oft werden solche Umfragen zur Festsetzung einer vermeintlichen „Normalität“ benutzt, die nichts oder nur wenig mit den sexuellen Erfahrungen des Einzelnen zu tun hat. Unsere Daten geben ein differenzierteres und umfassenderes Bild von Sexualität, weil wir viele Aspekte, die Einfluss auf sie nehmen und auf die sie zurückwirken, eingebunden haben.

8. Welches Ergebnis hat sie am meisten überrascht?
J.P.: Positiv überrascht hat uns die rege Teilnahme vor allem von Jugendlichen und jungen Erwachsenen und der extrem hohe Anteil an vollständig ausgefüllten Fragebögen, für die immerhin jeweils etwa eine Stunde Zeit nötig war. Nach den Erfahrungen von Konsum- und Meinungsforschern und den Lehrbüchern der Kommunikationswissenschaft hätte gerade die jüngere Zielgruppe schon nach spätestens 10 Minuten gelangweilt aufgeben müssen.

9. Welches Ergebnis war für Sie am wenigsten überraschend?
J.P.: Es sind mindestens zwei Ergebnisse, die wir genau so erwartet haben, weil sie uns auch in der Sexualtherapie immer wieder begegnen: Es gibt in der Tat einen engen Zusammenhang zwischen der Fähigkeit sexuelle Bedürfnisse dem Partner mitzuteilen und der eigenen lustvollen Erfahrung von Sexualität. Außerdem gibt es einen deutlichen Zusammenhang zwischen Pornographiekonsum und der Erwartungshaltung was die eigenen Genitalien und die des Partners betrifft. Ich spreche hier von Größe und Form, aber auch von der Praxis des Rasierens der Genitalien.

10. Ihre Prognose: Was wird der Sex der Zukunft?

J.P.: Ein Quantifizieren von Sexualität ist wissenschaftlich unseriös, weil die Kategorien dafür fehlen. Äpfel (z.B. Masturbation) und Birnen (z.B. vaginaler Geschlechtsverkehr) lassen sich nicht gegeneinander aufrechnen. Als langfristigen Trend kann aber sicher ein weiterhin zunehmender Zwang zum Selbstzwang konstatiert werden. Die Erwartungshaltung an unser eigenes „Funktionieren“ als sexuell aktiver Mensch wird ebenso zunehmen wie das Bedürfnis, die Realität nach unseren sexuellen Phantasien zu formen. Frustrationen sind dann vorprogrammiert. Das Rezept dagegen hat Oswalt Kolle schon vor 40 Jahren verraten: Das Akzeptieren der eigenen sexuellen Bedürfnisse – ohne Druck und ohne sich an anderen zu messen.

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